80. Jahrestag der Deportation nach Theresienstadt
Gedenkfeier am Bahnhof Niederwalgern
Am 6. September 2022 jährte sich zum 80. Mal die Deportation von Jüdinnen und Juden aus dem Kreis Marburg in das Ghetto Theresienstadt. Auch aus Roth und aus Neustadt nach Roth zwangsumgesiedelte Juden waren darunter, die von Niederwalgern aus die Reise an einen Ort antreten mussten, aus dem es für keinen von ihnen eine Rückkehr gab. Sie fanden im KZ Theresienstadt den Tod oder wurden in Vernichtungslager wie Auschwitz weiter transportiert und dort ermordet.
An der Gedenkfeier nahm auch eine größere Gruppe von Kommunalpolitikern sowie interessierten Bürgern aus Neustadt teil.
Nach der Begrüßung durch die stellvertretende Vorsitzende des Arbeitskreises Landsynagoge Roth, Laurence Briant, sprachen der Erste Kreisbeigeordnete Marian Zachow, Neustadts Bürgermeister Thomas Groll und die Erste Beigeordnete der Gemeinde Weimar, Martina Klein.
Der evangelische Pfarrer Wolfgang Gerhardt und Thorsten Schmermund von der jüdischen Gemeinde Marburg umrahmten das Gedenken mit Gebeten, Musik und Gesang.
Zwei Schülerinnen der Gesamtschule Niederwalgern trugen die die Lebensdaten der deportierten jüdischen Frauen, Männer und Kinder – darunter sieben aus Neustadt – vor.
Nachfolgend Auszüge aus der Ansprache von Bürgermeister Thomas Groll:
„Die Ereignisse, derer wir heute gedenken, sie liegen gerade einmal achtzig Jahre zurück. Dennoch scheinen sie uns so weit weg zu sein.
Mitte des 20. Jahrhunderts starben nicht nur fünfundfünfzig Millionen Menschen im II. Weltkrieg, sondern auch über sechs Millionen Frauen, Männer und Kinder, weitüberwiegend jüdischen Glaubens, wurden in den Konzentrationslagern des NS-Staates ermordet.
Rund achtzig Jahre beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung eines Menschen.
Unsere Eltern oder Großeltern haben damals – 1942 – gelebt.
Was haben sie gewusst, was vermutet, wo vielleicht sogar aktiv mitgetan?
Unsere Eltern und Großeltern waren zumeist keine Täter, aber eben auch keine Wiederstandkämpfer.
Ihnen dies vorzuhalten, wäre nicht gerecht. Zum Helden sind nur wenige geboren.
Im Nachhinein zu urteilen ist leicht, zu leicht. Wo hätten wir damals gestanden – in einer Diktatur? Ehrlich gesagt wissen wir es nicht.
Zunächst waren es wenige, die einer fatalen Ideologie folgten, später Millionen, auch bei uns.
Wichtig ist, dass wir die Lehren aus dieser Zeit ziehen. Tun wir dies wirklich?
Warum kommt es immer wieder zu Antisemitismus, zu Gewalt gegen Menschen jüdischen Glaubens?
Und auch heute sind wir in Deutschland nicht gegen Antisemitismus gefeit.
Gewalt gegen Sachen und Menschen, die sich zum Judentum bekennen, sind regelmäßig zu beklagen.
Wir leben heute in einer Demokratie.
Wir können – nein, wir müssen - sagen, wenn etwas in eine falsche Richtung läuft.
Heute muss man kein Held sein, um für Frieden, Freiheit und Recht einzustehen.
Wir alle müssen lauter werden, dürfen nicht eine schweigende Mehrheit sein, und müssen unsere Stimme erheben, wenn es nötig ist.
1952 wurde im Konzentrationslager Bergen-Belsen ein Mahnmal an die dort ermordeten Menschen eingeweiht.
Bundespräsident Theodor Heuss zitierte damals ein lateinisches Wort: Saxa luqundur – Steine können sprechen.
Und er fügte an: Es kommt auf uns an, dass wir ihre Sprache versprechen.
Das ist es: Wir müssen die Sprache der Mahnmale und Stolpersteine verstehen.
Müssen Wächter und Mahner sein.
Wenn wir dies tun, dann halten wir auch die Menschen, derer wir heute gedenken, in Ehren, dann sind sie und ihre Schicksale nicht vergessen.“